Auf dem Weg zur eigenen psychischen Freiheit
Alfred Adler erkennt im Ausweichen vor den Lebensproblemen die Ursache vielfältiger psychischer Symptombildungen. Hieraus leitet er seine psychotherapeutische Arbeit ab.
Franz Kafka hat für diesen schwierigen Umgang mit den Lebensproblemen bzw. den Aufgaben, die das Leben an jeden von uns stellt, ein wunderbar treffendes Bild gefunden. Danach geht „der wahre Weg über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“
Hier hat die bildhafte Logik des Ausweichens, dieses Abirren vom Wege – von Kafka metaphorisch als Seil bezeichnet – zur Folge, dass uns eben dieses Ausweichen selbst zum Verhängnis werden kann. Wenn wir das Seil nicht zu nutzen wissen, wird das Seil zu einem Hindernis. Das Stolpern macht uns nicht frei, ist daher ein Irrweg. Wir erleben mehr das Stolpern, als dass wir vorankommen. Oder mit Alfred Adler: Der Weg des Ausweichens führt dann zu überflüssigen Lebensschwierigkeiten. Bis wir uns entschließen, auf dem Seil zu gehen, ist uns dieses im Wege. Nun könnte man dies als eine opportunistische Empfehlung missverstehen. Jedoch hat man jederzeit die Möglichkeit, bewusst vom Seil herabzusteigen und dabei ein Stolpern zu riskieren. Dies ist die Situation des kreativen Menschen und benennt zugleich das, was mit Hegels Diktum „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ erfasst ist.
Zum 250. Geburtstag von G.W.F. Hegel im Jahre 2020 lohnt es sich daher, zur Frage des Ausweichens bei diesem wohl wirkungsmächtigsten Philosophen der Neuzeit nachzufragen.
Hierzu ein kleiner Ausflug:
Hegel zufolge verwirklichen sich Vernunft und Freiheit in der Geschichte, und ein entscheidender Moment in der Geschichte war für ihn mit der Französischen Revolution gekommen. Durch sie war die Möglichkeit gegeben, dass ein „gemeinschaftstragender Staat der Vernunft wie der Freiheit“ Wirklichkeit werde – verkörpert in der Gestalt Napoleons. Nun können wir entdecken:
Für Hegel ist die Vernunft der natürliche Feind des Ausweichens. Seine dialektische Logik verlangt zwingend den Gegensatz. Diese Logik ist eine Logik der Entwicklung, genauer gesagt, eine Logik der Entwicklung in der Geschichte. Der sich darin entwickelnde Begriff der Freiheit und der Vernunft kennt kein Ausweichen. Denn Ausweichen ist – so Hegel – gleichbedeutend mit der Verhinderung von Freiheit. Und ohne diese Freiheit besteht keine Möglichkeit der Entwicklung des Geistes zur Vernunft, der wiederum im gemeinschaftstragenden Staat sich nach Hegel verwirklicht.
Hegel beeinflusste seine Anhänger wie seine Widersacher. Karl Marx, einer seiner berühmten Schüler, wurde zwar gleichfalls ein Gegner des Ausweichens, im Gegensatz zu seinem Lehrer gab er jedoch praktischen Methoden gegen dieses Ausweichen den Vorzug, indem er die Befreiung des Menschen im Klassenkampf einforderte. Marx wollte Hegel „vom Kopf auf die Füße stellen“. Denn während für Hegel galt: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; was wirklich ist, das ist vernünftig“, sah Marx in ebendieser „Wirklichkeit“ keine Vernunft, sondern nur Unterdrückung. Und genau dadurch gab diese Wirklichkeit die Ermächtigung zu ihrer eigenen und dabei unausweichlich radikalen Veränderung.
Sicher werden wir im kommenden Jahr Hegel als den Philosophen der Freiheit wie der Vernunft zu Recht ehren können. Hat doch gerade dieser Philosoph im Zeitalter des Klimakampfes uns immer noch viel zu sagen und bleibt eine Quelle des Nachdenkens.
Psychologischer als bei Karl Marx ging es bei Alfred Adler zu. Er verlagerte diesen Freiheitsanspruch in das Individuum selbst, welches sich der Aufgabe gegenübersah, durch eine gesunde Psyche zu dieser Freiheit zu gelangen, und entwickelte daraus seine Individualpsychologie. Freiheit war – so Adler – das Ergebnis einer individuellen Entwicklung des Menschen, die man durch das Streben nach Selbstständigkeit, durch die Entwicklung von sozialem Mut und einem Verantwortungsgefühl erlange. Er blickte auf die menschliche Konstitution, sah den Menschen als ein Mängelwesen, das seine Minderwertigkeitsgefühle zu bewältigen habe, wobei das soziale Interesse – von Adler als Gemeinschaftsgefühl bezeichnet – dem Individuum bei der Entwicklung der persönlichen Freiheit zur Seite steht.
Dieses Gemeinschaftsgefühl geht jedoch weit über die persönliche (Selbst-)Entwicklung hinaus. Alfred Adler schreibt:
„Ich bin nicht in der Lage, es ganz eindeutig zu definieren, aber ich habe bei einem englischen Autor eine Wendung gefunden, die klar zum Ausdruck bringt, was wir zu unserer Erklärung beitragen könnten: Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen.“
Durch das Gemeinschaftsinteresse sei, so Adler, eine Befreiung des Menschen von sich selbst und zu sich selbst möglich. Hiermit sei das psychische Ausweichen vor den alltäglichen Lebensaufgaben überwindbar und einer Ausweichersatzbildung durch Symptome werde der Boden entzogen. Psychische Symptombildungen finden sich, laut Adler, stets dort, wo der Mut fehlt, sich seinen sogenannten Lebensaufgaben zu stellen. Unschwer erkennen wir hier Hegels Diktum: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“ wieder, hier in der Gestalt des Gemeinschaftsinteresses.
Im Prinzip ist dies also genau das, was Hegel forderte. Denn seine zentrale Forderung lautete: frei leben zu lernen. Denken bedeutete zwar für Hegel ein Denken zur Freiheit, jedoch verlagerte er dies idealistisch in die Entwicklung des Begriffs, der sich zur Freiheit in der Geschichte hocharbeitet. So ist die Weltgeschichte für ihn ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Begünstigt wurde diese Sichtweise dadurch, dass Hegel in seiner Zeit die Voraussetzung zu einer freiheitsgarantierten Gemeinschaft als gegeben sah. Leider waren seine Schlussfolgerungen, was die Freiheit wie auch die Vernunft betrifft, selbstzerstörerisch. Seine Aussage, wonach der Staat immer recht hat, dass er die Wirklichkeit der Vernunft ist, veranlasste Marx wiederum zu der Schlussfolgerung, dass Hegels Philosophie eine „auf den Kopf zu stellende Philosophie“ sei. Adler hat dieses „Auf-den-Kopf-Stellen“ schließlich als Psychologe vollbracht.
So lohnt es sich für den aufgeklärten Menschen, sich kritisch mit Alfred Adler auseinanderzusetzen und seine psychotherapeutischen Werkzeuge zu lernen wie zu nutzen.
Darüber hinaus sind wir alle auf dem Weg zu unserer eigenen psychischen Freiheit und versuchen dabei, auf dem „Seil unseres Lebenswegs“ nicht ins Stolpern zu geraten. Und auch hier erweist sich Adler, dieser Menschenkenner und Menschenfreund, als der richtige Wegbegleiter, wenn er sagt, dass Freiheit vom Mut lebt, sich auf andere einlassen zu können. Oder ganz direkt: „Die größte Gefahr im Leben ist, zu vorsichtig zu werden.“
Ich wünsche Ihnen ein besinnliches und erfolgreiches 2020.
Roland Lange