Zur tiefenpsychologischen Dynamik von Abhängigkeitserkrankung und Co-Abhängigkeit

Tiefenpsychologische Sucht-Konzepte erkennen in einer Suchtkrankheit immer auch eine Beziehungskrankheit. Was bedeutet das eigentlich? Oder: Wann wird eine Beziehung krank? Oder: Was bedeutet das Symptom Sucht für eine Beziehung?
Versuchen wir zunächst, eine Antwort auf die letzte Frage zu geben. Provokativ gesagt, löst tatsächlich jede Sucht bestehende Beziehungen allmählich auf. Die Co-Abhängigen klammern sich dennoch verzweifelt an eine rettende Illusion, die wir in tiefenpsychologischen Befunden immer wieder finden: Sie wollen die Beziehung in nebulös verschmelzender Weise retten, indem sie jetzt faktisch nicht gegen die Sucht wirken, sie fördern diese stattdessen regelmäßig. Selbst Suchtherapeuten können sich nicht immer ausreichend abgrenzen, geraten allzu häufig in die nicht gewollte Falle der Co-Abhängigkeit. Schließlich wollen sie ja helfen. Durch die Gefahr, die im Spannungsverhältnis zwischen der Nähe und der Distanzfindung des Therapeuten liegt, kann der Therapeut hierbei selbst ins Nebulöse abgleiten.

Schauen wir uns nun weiter an, wann eine Beziehung so krank wird, dass die typischen suchtrelevanten Konfliktkonstellationen auftreten: Nach Alfred Adler vermissen wir das Interesse am Anderen (Gemeinschaftsgefühl), privatlogische Denk- und Fühlweisen gewinnen in der Beziehung die Oberhand, das Geltungsstreben wird in der Beziehung selbstbezogen ausgelebt, die Sucht wird zum Kompensationsmittel. In der Konsequenz wird die Beziehung gestört und zwar nicht nur die Liebesbeziehung, sondern auch die Beziehungen im sozialen Umfeld des abhängig Erkrankten.
Alles, was einen Menschen trägt – Familie, Liebesbeziehung, Freunde und Arbeit –, wird während der Suchtentwicklung instabil, brüchig. Wenn sich ein Erkrankter dem Entzug stellt, muss er einerseits den körperlichen Entzug ertragen (physisch bedingte Leeregefühle durch den Entzug), andererseits sieht er sich konfrontiert mit der Leere im sozialen Umfeld. Psychische Labilitäten, die möglicherweise vor einer Suchterkrankung bestanden und in einer in den psychischen Entwicklungsphasen nicht genügend ausgebildeten psychischen Integrität begründet sind, erschweren die Genesung während und nach dem Entzug. Liegen zudem strukturelle Störungen vor, müssen diese in einem ganzheitlichen Entwöhnungskonzept erkannt und unbedingt in dieses miteinbezogen werden.

Die gute Nachricht: Die heilende Kraft von Beziehungen

Beziehungen können heilen, Beziehungen können helfen, die Abstinenz dauerhaft zu leben.
Oder: Eine Reintegration kann durch die Entdeckung, dass Beziehungen Freude machen, möglich werden.
Sich wieder am Anderen erfreuen zu können, ihn zu respektieren, dies ist in allen suchttherapeutischen Einzel- wie in Gruppenarbeiten ein gewünschtes Ziel.
So sind wir nicht überrascht, dass wir dieses Heilmittel auch bei den Anonymen Alkoholikern (AA) finden.
Das Minderwertigkeitsgefühl bedarf nicht der Kompensation durch Sucht, sondern durch die Hinwendung zur Gemeinschaft. Dies hat uns Alfred Adler gelehrt.

Dr. Roland Lange